Versuch der Beschlagnahmung

Versuch der Beschlagnahmung  einer Schusterwerkstatt

(März 1945)

Im Frühjahr 1945, der Zweite Weltkrieg befand sich in der Endphase, war aus dem durch den unerbittlichen Luftkrieg fast völlig zerstörten Darmstadt ein Schuhmacher namens Rahn (Name geändert) mit seiner Familie als sog. „Evakuierter“ in Nieder-Liebersbach untergebracht. Sein geäußerter Wunsch, doch bald möglichst seinem Beruf nachgehen zu können, brachte er mit Schreiben an das Landratsamt vom 8. März 1945 sehr selbstbewusst zu Papier:

„Nach dem Terrorangriff vom 11.9.1944 auf Darmstadt wurde ich nicht allein total ausgebombt, sondern ich verlor auch meine Arbeitsstelle. Es wäre für mich ein leichtes gewesen, sofort wieder als Schuhmacher zu arbeiten, wenn ich für meine Familie eine Wohnung oder Unterkunft gefunden hätte.

Es ist für mich sehr schwer, meine schwangere Frau und 3 Kinder unterzubringen, was mir aber doch endlich am 30.11.1944 gelang. In den darauf folgenden Wochen, kam ich vor lauter Einkäufen (Möbel. Geschirr, Wäsche und Kleider) nicht dazu, mich um Arbeit zu kümmern.

Schon nach der ersten Woche meiner Ankunft wusste ich von der Schuhmacherwerkstatt Helmling. Teilte dies auch sofort dem Kreishandwerksmeister Herrn Keil in Heppenheim mit. Als ich die Mitteilung erhielt, dass ich nun in Birkenau arbeiten dürfte, setzte ich mich sofort mit dem Bürgermeister, Herrn Jakob, in Verbindung. Konnten aber keine Werkstatt auf gutem Wege erhalten. Wie mir und Herrn Jakob bekannt ist, befindet sich in Birkenau eine sehr gut eingerichtete Schuhmacherwerkstatt mit allen Maschinen. Es ist dies die Werkstatt von Karl Müller (Birkenau, Adolf-Hitler Straße 4, Anmerkung: = Hauptstraße) Mit Frau Müller habe ich schon gesprochen und nichts erreicht. Den Verhältnissen entsprechend ist es das Beste die Werkstatt zu beschlagnahmen. Dies müsste aber bis zum 20.3.1944 geschehen sein, da ich sonst vom Arbeitsamt anderweitig eingesetzt werde.

Die Gründe, warum ich eine eigene Werkstatt möchte, sind folgende:

  1. In meiner letzten Arbeitsstelle in Darmstadt hatte ich volle Freiheit, war mit allen vorkommenden Arbeiten vertraut, musste alle Maschinen bedienen und die Arbeit für die Gesellen einteilen, verrichten und überwachen.
  2. Hatte im Anfang des Krieges für einen einberufenen Schuhmachermeister in Darmstadt das Geschäft ein 3/4 Jahr weitergeführt.
  3. Ich wollte schon 1941 die Meisterprüfung ablegen und mir ein Geschäft gründen. Wurde aber nicht zugelassen, da ich erst 23 Jahre alt war. Durch die immer mehr werdende Arbeit, war es mir nicht möglich die Meisterprüfung abzulegen.
  4. Sehe ich nicht ein, dass ich vielleicht auswärts arbeiten soll, da in Birkenau die Möglichkeit besteht, eine Werkstatt zu bekommen und außerdem ist in Birkenau nur noch ein Schuhmacher, der für 4000 Einwohner arbeiten soll. Ich bitte um eine baldige Nachricht, dass ich der Kreishandwerkerschaft Bescheid geben kann.

Mit deutschem Gruß

Hans Rahn, Nieder-Liebersbach, Balzenbacher Str. 20″.

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass sich die Ehefrauen und Angehörigen in Nieder-Liebersbach und Birkenau vehement dagegen wehrten, in Abwesenheit ihrer im Krieg befindlichen Ehemänner deren Werkstätten und Werkzeuge einem fremden Schuster zur Verfügung zu stellen. Die von dem Darmstädter Schuster Rahn angeregte Beschlagnahmung stellte die Bürgermeister vor große Probleme, so dass man den Eindruck gewinnt, die Angelegenheit wurde wie eine „heiße Kartoffel“ hin und her geschoben.

Bürgermeister Adam Emig schrieb an die Kreisverwaltung:

„Teile mit, dass hier bis jetzt noch drei Schuhmachermeister ihre Betriebe offen haben und es für die Einwohnerschaft von Birkenau viel bequemer ist, wenn in Birkenau eine Schuhmacherwerkstatt für Rahn eröffnet wird. Nach meinen Ermittlungen stehen in Birkenau drei Schuhmacherwerkstätten infolge Einberufungen leer, die auch mit Ausputzmaschinen ausgestattet sind, dagegen ist in der hier benannten Werkstatt keine Ausputzmaschine. Außerdem berichte ich, dass der Schuhmacher Helmling in Frankreich war und es noch keine Nachricht gegeben hat, dass dessen Ehefrau und die Mutter während seiner Abwesenheit verstorben sind. Vier Kinder der Verstorbenen sind unter Vormundschaft gestellt, die Möbel und andere Haushaltsgegenstände sind in der Wohnung und Schuhmacherwerkstatt zusammengestellt und wurde so eine Wohnung für drei evakuierte Personen frei. Aus vorgenannten Gründen bitte ich in Birkenau eine Werkstatt für Rahn zu beschlagnahmen zu lassen oder denselben dem Schuhmachermeister Müller, Birkenau, als Gesellen zuzuweisen.“

Die Kreisverwaltung schickte das Schreiben von Rahn an die Gemeindeverwaltung Birkenau. Bürgermeister Adam Jakob berichtete daraufhin:

„Ich habe mich um den Schuhmacher Rahn aus Darmstadt bemüht, bevor derselbe die Werkstatt in Nieder-Liebersbach begehrt hat.

Es sind wohl von hier die Schuhmacher Valentin Schmitt, Karl Müller, Philipp Müller und Peter Pfeifer einberufen, aber mit Ausnahme von Philipp Müller und Karl Müller hatte keiner der oben genannten eine besondere Werkstatt, Philipp Müller ist vermisst und die Frau wehrt sich mit allen Mitteln gegen die Abgabe der Werkstatt, weinend hat dieselbe erklärt, dass sie es nicht ertragen könne, wenn ein Anderer in der Werkstatt arbeite. Die Werkstatt des Karl Müller ist für die Unterstellung von Möbeln in Anspruch genommen. Die Frauen weigern sich alle, die Maschinen und sonstige Werkzeuge ohne Wissen des Mannes abzugeben. Freiwillig stellt keine die Maschinen und Werkzeuge zur Verfügung.

Die Werkstätte des hier eingesetzt gewesenen Schuhmachers Valentin Müller von Viernheim hat die Wehrmacht als Schuhmacherwerkstatt in Anspruch genommen.

In Rimbach ist ein Schuhmachermeister Kadel aus Darmstadt untergebracht, welcher gerade hier arbeiten würde, wenn ihm eine Wohnung zur Verfügung gestellt werden könnte. Dieser würde mir mehr zusagen als Rahn, umso mehr, als dieser selbständiger Meister in Darmstadt war.“

Dieser prägnante Vorgang, der ein Schlaglicht auf die damals herrschenden Verhältnisse wirft, erledigte sich durch Zeitablauf, da in unserem Raum der Zweite Weltkrieg Ende März 1945 sein Ende fand.

Günter Körner (3.2.2015)