Turbulente Gemeinderatswahlen 1925

Am 15. November 1925 waren in Nieder-Liebersbach Gemeinderatswahlen angesetzt. Wie bei jeder Wahl üblich, waren vor der Wahl von Parteien oder Vereinigungen, die an der Wahl teilnehmen wollten, Wahlvorschläge bis spätestens 24. Oktober 1925, 18 Uhr beim Bürgermeister einzureichen. Bürgermeister Johann Adam Jeck ließ jedoch den Vorständen sämtlicher Parteien durch den Polizeidiener Maurer mitteilen, dass er am besagten 24 Oktober verhindert sei, da er mit der Faselkommission (die Kommission hielt Ausschau nach einem geeigneten Gemeindebullen) unterwegs sei, um einen neuen Gemeindefasel anzukaufen. Wegen dieser dienstlichen Verhinderung verlängerte er die Frist zur Einreichung der Wahlvorschläge eigenmächtig auf Sonntag den 25. Oktober.

Alleine die Zentrumspartei brachte ihren Wahlvorschlag am 24. Oktober in die Wohnung des Bürgermeisters, obwohl dieser in der Umgebung sprungfähige Fasel besichtigte. Die anderen Parteien: Unparteiische, SPD und die Volkspartei, die eine Listenverbindung eingegangen waren, brachten ihre Wahlvorschläge am Sonntag bei Bürgermeister Jeck vorbei.

Tags darauf meldete der Bürgermeister alle vier Parteien dem Kreisamt in Heppenheim zur Teilnahme an der Gemeinderatswahl. Zeitgleich reichte die Zentrumspartei einen Protest beim Kreisamt ein: „Wir behalten uns vor, falls doch diese Vorschläge (= der anderen drei Parteien) in die Wahl aufgenommen werden sollten, die Wahl anzufechten.“ Am 2. November wurden die Unparteiischen, die SPD und die Volkspartei vorstellig und wandten sich vehement gegen das Vorgehen der Zentrumspartei: „Wir betrachten dieses Vorgehen als eine Beraubung unseres Wahlrechts, welches in der Gemeinde eine große Missstimmung und Unzufriedenheit hervorrufen würde … und bitten kreisamtliche Behörde im gerechten Sinne urteilen zu wollen und sämtliche Wahlvorschläge für gültig zu erklären.“ Bekräftigt wird dieser Antrag durch 142 Unterschriften, aufgegliedert nach den einzelnen politischen Parteien, ein seltenes Zeitzeugnis.

Da die drei Parteien davon ausgingen, dass sie etwa 2/3 der Nieder-Liebersbacher Einwohnerschaft hinter sich hatten und deshalb eine hohe Brisanz gegeben war, reichte das Kreisamt in Heppenheim wohl auch aus diesen Gründen die Zuständigkeit zur Entscheidung wie eine heiße Kartoffel an die örtliche Wahlkommission zurück.

Am 6. November 1925 entschied die Wahlkommission: „Dass nach Durchsicht der einzelnen Wahlvorschläge wurden Mängeln an denselben nicht gefunden und infolgedessen werden alle vier Vorschläge zugelassen, sowie die Verbindungserklärung“. Am 12.11.1925 Vertrauensmann Franz Schmitt in Namen der Zentrumspartei nochmals einen Protest an das Kreisamt „wir geben uns mit diesem Entscheid nicht zufrieden und behalten uns weitere Schritte vor“. Die Zentrumspartei vertrat die Auffassung, dass nur ihr fristgerecht eingereichter Wahlvorschlag gültig sei und deshalb überhaupt keine Gemeinderatswahl stattfinden sollte und der Gemeinderat folglich nur aus Gemeinderäten ihrer Partei bestehen sollte. Konsequenterweise rief die Zentrumspartei ihre Mitglieder und Anhänger durch persönliche Aufforderung zu einem Wahlboykott auf. Entsprechend fiel das Wahlergebnis am 15. November 1925 aus: 8 Stimmen (!) für die Zentrumspartei, Deutsche Volkspartei 64 Stimmen, SPD 37 Stimmen, die Unparteiischen 63 Stimmen. Der Verursacher dieser Kalamität, Bürgermeister Johann Adam Jeck, war inzwischen nicht mehr im Amt und war durch seinen Nachfolger Friedrich Adam Emig abgelöst worden, der am 18.11. den Einspruch der Zentrumspartei, vertreten durch den Vertrauensmann Adam Franz Schmitt, zu Papier brachte.

Am 8. Dezember befasste sich der Kreisausschuss des Kreises Heppenheim mit dem Einspruch gegen die stattgefundene Gemeinderatswahl. Nach ausführlicher Darlegung der Entscheidungsgründe kam dieses Gremium zu dem Schluss „die Gemeinderatswahl zu Nieder-Liebersbach vom 15. November 1925 wird aufgehoben und nochmalige Wahl angeordnet“. Die gleichzeitig stattgefundenen Kreis- und Provinzialwahlen seien unabhängig von diesem Einspruch gültig.

Gegen diese Entscheidung erfolgte umgehend Einspruch durch die Zentrumspartei, so dass sich der „Provinzialausschuß der Provinz Starkenburg“ damit befassen musste. Die Eingabe der Zentrumspartei an den Provinzialausschuß enthält eine neue Komponente. Es wird dargelegt, dass die Dienstreise des Bürgermeisters Johann Adam Jeck nicht die wahre Ursache der von ihm eigenmächtig vorgenommen Fristverlängerung für die Einreichung der Wahlvorschläge gewesen sei. Vielmehr wären die Wahlvorschläge der anderen drei Parteien noch nicht komplett gewesen. Als Zeuge hierfür wird der Faselhalter Adam Arnold angegeben, der angab: „die Unparteiischen haben am 25.10.1925 vormittags noch Unterschriften für ihren Wahlvorschlag gesammelt, ich habe dies gesehen“. Außerdem behauptete die Zentrumspartei, dass „Bürgermeister Emig schon 10 Tage vor der Verhandlung das Urteil in der Wirtschaft öffentlich bekannt gab … der Beigeordnete Michael Kadel hat am Verhandlungstage auf der Bahn, im Wartesaal in Weinheim und auf dem Weg von Heppenheim zum Kreis Mitglieder des Kreisausschusses in auffälliger Weise in seinem Sinne informiert und zu beeinflussen gesucht“.

Die Stimmung im Ort war recht aufgeheizt und emotional.

Der Provinzialausschuss wies mit Entscheidung vom 6. März 1926 den Einspruch der Zentrumspartei zurück gegen die Entscheidung des Kreisausschusses zurück. Es blieb dabei, Neuwahlen sollten stattfinden.

Am 2. 6.1926 ließ Franz Adam Schmitt für die Zentrumspartei Revision gegen die Entscheidung des Provinzialausschusses durch den Darmstädter Rechtsanwälte Geissner/Langenbach einlegen. Diese Revision wurde aber offenbar wegen Aussichtslosigkeit zurückgezogen. Die neu angesetzten Gemeinderatswahlen fanden am 9. Januar 1927 statt und brachten folgendes Ergebnis 4 Gemeinderäte der Zentrumspartei, 3 Vertreter der Volkspartei, 2 Vertreter der Unparteiischen, 1 Sozialdemokrat.

 

Günter Körner 10.7.2015