Pfarrer Müller trotzte der NSDAP

Nach dem in Nieder-Liebersbach von 1925 – 1958 tätigen katholische Pfarrer Franz Xaver Müller wurde 1951 wegen seiner Verdienste um den Ort eine Straße benannt. 1958 wurde er zum Ehrenbürger der Gemeinde ernannt. Im Jahre 1937 erweckte sein Engagement für Kinder und Jugendliche den Unmut der Kreisleitung der NSDAP in Heppenheim. Anlass waren „Kinderspiele auf dem Spielplatz in Nieder-Liebersbach“, die die Gendarmeriestation Birkenau am 5. August 1937 so schilderte:

Auf den Spielplatz in Nieder-Liebersbach kommen zur Zeit 100 Kinder aus Weinheim a. d. B. Diese werden in Trupps zu 20 bis 30 Kindern von Weinheim nach Nieder-Liebersbach geführt. Es werden gewöhnlich 3 bis 4 Trupps geführt. Von den Kindern marschieren die kleineren die Straße von Weinheim über Birkenau nach Nieder-Liebersbach, die größeren Kinder werden über den Wald geführt.

Auf dem Spielplatz werden dann Hand- und Fußballspiele, Reigen, Dritter Mann abschlagen, Katz und Maus und andere Kinderspiele ausgeführt. Auch machen andere noch Spaziergänge in die umliegenden Waldungen.

Die Kinder bringen von zu Hause Brot mit, welches sie im Brotbeutel bei sich tragen. In Nieder-Liebersbach bekommen sie ein regelrechtes Mittagessen und nachmittags nochmal Tee oder Kakao. Die hierzu nötigen Lebensmittel werden in Nieder-Liebersbach gekauft. Das Essen wird von Frauen aus Nieder-Liebersbach gekocht. Die Kosten werden von dem Caritasverband getragen.

Die Kinder aus Weinheim übernachten nicht, sondern wie morgens in Trupps nach Reisen geführt und fahren von dort mit der Bahn nach Weinheim. Eine einheitliche Kleidung wird von den Kindern nicht getragen.

Auf dem Marsch von Weinheim nach Nieder-Liebersbach und zurück werden keine Fähnchen oder Wimpel aufgesteckt oder getragen. Außer den Kindern aus Weinheim sind z. Zt. noch 38 Kinder aus Worms im Schwesternhaus zu Nieder-Liebersbach. Diese werden dort vollständig verpflegt und überachten auch im Schwesternhaus, wo 40 Betten aufgestellt sind. Die Kosten hierfür werden ebenfalls von Caritasverband getragen. Diese Kinder verbleiben 14 Tage und zwar bis zum 14.8.1937 dort. Die Lebensmittel werden von Worms geliefert. Es ist dieses die zweite Gruppe von Worms und waren zuvor ebenfalls auf 14 Tage 28 Kinder dort.“

Dieser Bericht wurde an die Kreisleitung der NSDAP weitergegeben. In einem Schreiben an das Kreisamt in Heppenheim wird etwas ratlos ergänzend vermerkt:

„Da im vergangenen Jahre die Abhaltung dieser Kinderspiele nicht verboten und nur das geplante Kinderfest nicht erlaubt wurde, so wurde von Seiten der Station bis jetzt nichts unternommen und nur mit der Ortsgruppenleitung Birkenau über die Sache gesprochen. Diese wollte bei der Kreisleitung anfragen, ob diese Kinderspiele nicht verboten werden könnten.“

Am 30. August 1937 bemerkt die NSDAP Kreisleitung in einem Schriftsatz an das Kreisamt zu diesen offenbar als subversiv eingeschätzten Kinderspielen folgendes:

„In der Anlage sende ich Ihnen die mir überlassenen Akten bezüglich der Kinderspiele auf dem Spielplatz in Nieder-Liebersbach wieder zurück. Wir haben hierzu folgendes zu bemerken: Die von der Gendarmerie Birkenau gemachten Angaben sind auch der dortigen Ortsgruppenleitung bekannt. Dieser kleine Pfarrer Müller beweist uns trotz allerlei Gesetze für die nationalsozialistische Jugenderziehung, dass er durch seine raffinierte Art es fertig bringt, die katholische Jugend aus der ganzen Umgebung massenweise im alten Zentrums- und DJK-Geist zu schulen unter dem Deckmantel Kindererholung. Es wäre unbedingt notwendig, dass von Seiten der Geheimen Staatspolizei oder dem SS-Sicherheitsdienst Müller einmal einige Wochen überwacht würde. Von der gesamten Jugend, welche dort aufmarschiert, werden bestimmt die wenigsten Kinder der HJ oder dem BDM angehören. Einen entsprechenden Bericht über die Angelegenheit habe ich der Gauleitung zugesandt.

Ich bitte das Kreisamt, als Ortspolizeibehörde alles zu tun, um diese Wanderungen nach Nieder-Liebersbach die weiter nichts sind, als eine versteckte Wiederauffrischung der früheren katholischen Jugendbewegung, zu unterbinden. Vor allen Dingen ist eine Überwachung dringend am Platze.“

Am 4. April 1938 gegen 9.30 Uhr brach im Schwesternhaus ein Feuer aus. Der Brand war angeblich durch grobe Fahrlässigkeit entstanden. Kaplan Traber aus Weinheim hatte sich von Leonhard Dietrich einen Ofen geliehen und im Saal nahe am Kamin an die Wand gestellt.  Offenbar trat eine Überhitzung ein, so dass sog. `Kapag-IsolierplattenA Feuer gefangen hatten. Im Saal befindliche Strohsäcke, Schlafsäcke und wollene Decken verbrannten. Nur durch das Eingreifen eines auf Urlaub in Nieder-Liebersbach weilenden Berufsfeuerwehrsmannes namens Richard Massemann aus Mannheim-Käfertal konnte ein Gebäudeschaden vermieden werden.

Auf einen solchen Vorfall schien man von Seiten der NSDAP gewartet zu haben. An die Gendarmeriestation Birkenau erging am 13.4. 1938 die Weisung:

„In obiger Sache ( = Tätigkeit der katholischen Jugend in Nieder-Liebersbach ) geben wir Ihnen auf, eine scharfe Überwachung des Treibens des Pfarrers Müller, Nieder-Liebersbach und des Kaplans Traber, Weinheim a. d. B. durchzuführen. Sollten, wie im letzten Jahre, wieder größere Veranstaltungen, die zu beanstanden sind, durchgeführt werden, so ist zwecks Einschreiten die Geheime Staatspolizei -Staatspolizeidienststelle- in Darmstadt telefonisch zu verständigen und uns schriftlich Mitteilung zu machen.“

Gegen beide Geistlichen wurde beim Oberstaatsanwalt in Darmstadt Anzeige wegen „fahrlässiger Brandstiftung“ erstattet. Am 11. Juli 1938 wurde dieses Verfahren eingestellt.

Danach erhielt Pfarrer Müller die vertrauliche Nachricht, dass das Schwesternhaus samt Einrichtungen beschlagnahmt werden sollte. Mit Genehmigung der bischöflichen Behörde in Mainz wurde das Obergeschoss zu Privatwohnungen ausgebaut und vermietet. Im Unterschoss war der Kindergarten untergebracht. So war man Sanktionen zuvor gekommen.