Hebammen in Nieder-Liebersbach

(1812 – 1948)

Bis in das Mittelalter hinein war Geburtshilfe ausschließlich eine Domäne der Frauen. Ihr Wissen um die Schwangerschaft und den Einsatz von krampfstillenden und Wehen fördernden Pflanzen und Kräutern, wie etwa Beifuß oder Mutterkorn ließen sie besonders zur Zeit der Hexenverfolgungen Zielscheibe von Verdächtigungen werden. In Hebammenordnungen wurde die Geburtshilfe reglementiert, was bedeutete, bei schweren Geburten einen Wundarzt hinzuzuziehen.  Auf den Hebammen lastete bei kärglicher Entlohnung eine enorme Verantwortung, bei  der ethische Gesichtspunkte eine gewichtige Rolle spielten.

Die erste für Nieder-Liebersbach erwähnte Hebamme war um 1760 die Witwe von Franz Eck, die damals im Auszug wohnte und ihrem Beruf nachging. Nähere Angaben hierzu fehlen völlig. 1812 wird als  Hebamme Anna Christina Maurer erwähnt, der Christina Braun (verheiratet ?) bis 1834 nachfolgte.

Über die Nachfolgerin, Eva Schmitt,sind  nähere Angaben greifbar.

Mit der Schreibweise von Vor- und Familiennamen hatte sie ihre liebe Mühe. So konnte es vorkommen, dass der Vorname Gabriel als Garavel oder der Name Gräber als Göber von ihr zu Papier gebracht wurden. Auf dem Gebiet der Geburtshilfe machte ihr, da sie nahezu 60 Jahre Nieder-Liebersbacher Frauen bei Entbindungen beistand, so schnell niemand etwas vor.

Eva Schmitt, so ihr Geburtsname, wurde am 2. März 1813 geboren. Sie heiratete Anfang November 1832  hochschwanger den ebenfalls aus Nieder-Liebersbach stammenden Adam Schmitt (einen Schneider), mit dem sie zehn Kinder hatte. Der Ehemann verstarb zur Jahresmitte 1849. Eva Schmitt begann ihre Ausbildung als Hebamme durch praktischen Anschauungsunterricht, indem sie ein bis zwei Jahre zunächst bei Geburten der damaligen Hebamme Christina Braun assistierte. Anfang 1834 erwarb sie in der „Entbindungsanstalt Mainz“ das noch fehlende theoretische und praktische Rüstzeug. Die Gemeinde Nieder-Liebersbach zahlte für diese Ausbildung 104 Gulden und 49 Kreuzer, eine gute Investition in die Zukunft, wie sich noch zeigen sollte. Ab 1. April 1834 trat Eva Schmitt ihren Dienst als Hebamme an. Ihre Entlohnung war kärglich: „11 Gulden Geldbesoldung und als Besoldungsanteil das ihr übergebene Äckerchen“, dessen Wert jährlich mit 8 Gulden angesetzt wurde. Für jeden beruflichen Einsatz „waren ihr bei Anstellung von jeder Geburt ein Gulden zugesichert worden, worunter die Besuchsgebühren von Armen, die nicht zahlen können, mit inbegriffen sind“. Dieser Gebührensatz blieb über drei Jahrzehnte unverändert. Hierbei ist noch zu berücksichtigen, dass Eva Schmitt längst nicht bei allen Geburten zu Hilfe gerufen wurde. Vergleiche der Anzahl der Einträge des Hebammenbuches (1867 – 1889) mit denen des Geburtenbuches der Kirche und des Standesamts zeigen, dass etwa ein Drittel der Frauen ohne professionelle Hilfe ihre Kinder zur Welt brachten.

Am 1. Mai 1855 heiratete die  Hebamme den 50jährigen Witwer Simon Maurer. Das einzige Kind dieser Familie war Leonhard Maurer, (der spätere Polizeidiener), der in dem abgerissenen Haus wohnte  in dem das Hebammenbuch gefunden wurde. Dieses Hebammenbuch wird heute in Birkenau im „Amschelloch“ aufbewahrt.

Eine gewisse Verbesserung ihrer Bezüge trat für Eva Maurer erst 1865 ein, als für das Großherzogtum Hessen eine einheitliche „Medicinaltaxe“ eingeführt wurde. Danach konnten „für eine regelmäßige leichte Geburt 1 – 2 Gulden, für eine regelmäßige langsame Geburt 1 1/2 bis 3 Gulden“ verlangt werden. Gebühren für schwierige Geburten, etwa bei „Quer-, Steiß- und Fußlage des Kindes“, bei denen der Einsatz von „Kunsthilfe“ erforderlich waren, sah diese Gebührenordnung nicht vor. Nach Einführung der Mark Anfang der 1870er Jahre erhielt Eva Maurer wiederum einheitlich pro Geburt 1,71 Mark, wobei selbst bei der Geburt von Zwillingen nur der einfache Gebührensatz berechnet werden durften.

Das von Eva Maurer geführte Hebammenbuch weist über einen Zeitraum von 22 Jahren nur 32 verschiedene weibliche und 36 verschiedene  männliche Vornamen auf. Bei den weiblichen Vornamen ergibt sich in der Häufigkeit der Nennungen folgende Reihenfolge: Margaretha, Katharina, Elisabetha und Barbara. Männliche Vornamen: Adam, Johannes, Leonhard und Georg.

Anfang des Jahres 1880 ist zu erfahren, dass Elisabetha Jeck am 23.12.1879 die Prüfung als Hebamme mit „sehr gut“ in der Entbindungsanstalt Mainz abgelegt hatte Sie war fortan neben der Gemeindehebamme als „Privathebamme“ tätig.

Am 5.6. 1889 schreibt Bürgermeister Johannes Emig  an das Großherzogliche Kreisamt:

„Wir stellen ergebenst den Antrag, gefälligst veranlassen zu wollen, dass die Hebamme Maurer als Gemeindehebamme pensioniert und die Stelle einer jüngeren Kraft übertragen werde. Die in der Gemeinde praktizierende Privathebamme Jeck, welche bei ihrer Ausbildung in Mainz 1879 in der aseptischen (= keimfreien) Leitung der Geburt unterrichtet wurde, genießt in der dasigen Gemeinde Vertrauen und würde sich in dieser Hinsicht wohl als Nachfolgerin für Hebamme Maurer eignen, wenn nicht der Umstand, dass sie früher bereits zweimal unehelich geboren, der an eine Gemeindehebamme in sittlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen des § 41 der widerspricht.“

Grundsätzlich war auch das Kreisamt für eine solche Lösung. Knackpunkt war bei den vorherrschenden ärmlichen Verhältnissen eine ausreichende Bezahlung der neuen Hebamme. Es entspann sich ein unerquicklicher Schriftverkehr zwischen Gemeinde und dem Kreisamt, das nicht ganz zu Unrecht darauf pochte, der Hebamme Jeck aus der Gemeindekasse einen Betrag zukommen zu lassen. Doch musste auch die `Pension von Eva Maurer bestritten werden.

Die Beharrlichkeit der Gemeinde Nieder-Liebersbach setzte sich schließlich durch:

„1. die seitherige Gemeindehebamme Maurer soll die von ihr seither bezogene Besoldung ungeschmälert fortbeziehen und soll es ihr überlassen bleiben auch fernerhin praktizieren  zu dürfen.

  1. die neu anzustellende Hebamme Jeck hat vorläufig, wenigstens solange die erstere am Leben ist, von der Gemeinde keinerlei Besoldung oder Vergütung zu beanspruchen mit Ausnahme der Gebühren für Geburtshilfe bei notorisch Armen in hiesiger Gemeinde, welche von derselben nicht beigetrieben werden können.“

Spekulativ wurde noch angemerkt: „Die seitherige Gemeindehebamme Maurer ist z. Zt. schwer krank und könnten vielleicht in Bälde diese Verhältnisse endgültig geregelt werden und wäre es vielleicht möglich, dass der Hebamme Jeck die von der Gemeinde angeschafften Instrumente einstweilen überlassen werden könnten.“

Zum Jahresanfang 1892 war Eva Maurer bei der Geburt von Leonhard Wendelin Mülbert letztmals im Einsatz. Sie verstarb als Witwe im Alter von 80 Jahren nach einem arbeitsreichen Leben am 27. Dezember 1893.

Jetzt endlich bekam Hebamme Elisabetha Jeck neben den ihr zustehenden Geburtsgebühren auch 40 Mark aus der Gemeindekasse.

Ein Vorfall, der sich im Februar des Jahres 1899 abspielte, zeigt recht deutlich, welch große Verantwortung auf den Hebammen lastete. Eine Frau war am Puerperalfieber (= Kindbettfieber) verstorben. Elisabetha Jeck  wurde vom Kreisamt vorgeworfen, sie habe es versäumt, einen Arzt hinzuzuziehen. Sie hielt jedoch die „Temperatursteigerungen“, also das Fieber der Wöchnerin für „rasch vorübergehend“ und als Folge  einer Erkältung. Trotz Verbot der Hebamme hatte die Wöchnerin an drei Tagen das Bett für einige Stunden verlassen.  Danach stellte sich Fieber mit 40 Grad ein, das jedoch bereits am anderen Morgen auf 38,3 Grad gesunken und am nächsten Tag nur noch 37,8 Grad betrug. Die Wöchnerin bedeutete der Hebamme, sie bräuchte jetzt nicht mehr zu kommen (wohl wegen der Kosten). Trotzdem suchte Elisabetha Jeck die Wöchnerin nochmals auf und fand diese in einem erbärmlichen Zustand vor. Die Angehörigen berichteten, „dass nachts das Blut und das Fieber (41 Grad)  gekommen sei, es aber trotzdem nicht für nötig gehalten hätten, mich zu rufen“. Ein sofort herbeigerufener Arzt, der erst abends kam, empfahl „warme Ausspülungen“, die nichts mehr halfen, da die arme Frau am 25.2.1899 verstorben war.

Die Hebamme Jeck erhielt einen strengen Verweis und nur ihr „seitheriges unbeanstandetes Verhalten“ bewahrte sie vor einer strengeren Bestrafung.

Im Jahre 1901 nahm die Hebamme an einem Wiederholungskurs in Geburtshilfe in Mainz teil.  Gelegentliche Ausgaben für Instrumente und 1909 „für die Lieferung einer Uhr für die Hebamme für 10 Mark“ bedeuteten bescheidene Verbesserungen.

Am 30. Mai 1911 fand die „zweite ordentliche Vereinsversammlung des Hebammenvereins“ in Birkenau statt, auf der eine Mindestbesoldung für Hebammen von jährlich 50 Mark gefordert  wurde. Diesem Ersuchen  kam die Gemeinde Nieder-Liebersbach 1912 nach.

Die folgenden Jahre sind gekennzeichnet von dem Bestreben der Elisabetha Jeck in die „Fürsorgekasse für Beamte und Bedienstete der Landgemeinden“ zu kommen, um eine Mindestabsicherung zu erfahren. Für eine Berufshebamme hatte Nieder-Liebersbach zu wenige Geburten, bei denen die Hebamme mitwirkte (1909 = 20, 1910 = 21, 1911 = 31, 1912 = 26). Außerdem hatte es die Gemeinde 1889 versäumt, einen formellen Beschluss über ihre Anstellung als Gemeindehebamme zu fassen.

Zur Jahresmitte 1914 stellte der Birkenauer Sanitätsrat Dr. Johannes Stöhr ein Attest aus, wonach Elisabetha Jeck auf Dauer dienstunfähig sei. Die Tochter von Elisabetha Jeck, Katharina Jüllich, stellte an die Gemeinde einen Antrag auf Unterstützung: „Meine Mutter war durch das Verschulden der Gemeinde in keiner Versicherung und ist seit 1.6.1914 schwer krank und die Fürsorgekasse hat die Bewilligung eines Ruhegehalts abgelehnt. Ich als Tochter tue mein Möglichstes, aber die Gemeinde hat doch die Verpflichtung einer Hebamme, die 34 Jahre ihre Pflicht treu getan hat, nicht ganz ohne Hilfe zu lassen.“ Der Gemeinderat vertrat den Standpunkt: „.. die Hebamme Jeck ist absolut nicht unterstützungsbedürftig, mit der Auszahlung der Hälfte der Besoldung vom 1.1.1914 erklärt sich der Gemeinderat einverstanden.“

Das Kreisamt in Heppenheim machte den Vorschlag, Nieder-Liebersbach solle mit Birkenau einen Hebammenbezirk bilden. Dies lehnte der Gemeinderat ab: „Es ist mit Schwierigkeiten und Unkosten verknüpft, indem besonders zur Nachtzeit die Hebamme mit dem Fuhrwerk in Birkenau, Hornbach usw. geholt werden müsste.“

Im November 1914 fand unter mehreren Bewerberinnen für das Amt der Hebamme ein Auswahlverfahren statt. Das Ergebnis war, dass Elisabetha Hübner zu einem Hebammenkurs nach Mainz geschickt wurde, den sie mit der Note „vorzüglich“ bestand. Elisabetha Kadel (verheiratet) erhielt ab 1926 von der Gemeinde ein erhöhtes „Wartegeld von 80 Mark“.

Ebenso wie ihre Vorgängerin bemühte sich die Hebamme um Aufnahme in die „gemeindliche Beamten-Versicherungsanstalt“. Weder die Zahl der Geburten (1925= 16, 1926 = 20) noch das erzielte Einkommen von rund 800 Mark erfüllten die Voraussetzungen für eine Aufnahme. Mindestvoraussetzung waren 25 Geburten, bei der die Hebamme Beistand leistete. Elisabetha Kadel stellte unter diesem Aspekt den Antrag, dass Ober-Liebersbach ihrem Bezirk zugeteilt werden sollte. Dieses Ansinnen wies die Kreisverwaltung brüsk zurück, „da die Hebamme von Mörlenbach über ein Kraftfahrzeug verfügt und außerdem ist es von Mörlenbach nach Ober-Liebesbach näher“.  Im August 1947 wurde gemeldet, dass die Hebamme auf unbestimmte Zeit krank sei. Im November des gleichen Jahres verstarb Elisabetha Kadel, die über eine Generation in Nieder-Liebersbach Geburtshilfe geleistet hatte. In Heppenheim resümierte man:

„Da in den Jahren 1940-46 die Hebamme durchschnittlich nur 8 Geburten zu leiten hatte, erscheint eine Neubesetzung des Bezirks nicht notwendig. Der Hebammenbezirk soll deshalb aufgelöst und Birkenau zugeordnet  werden.“

Noch einmal 1948 machte die Gemeinde Anstrengungen, eine Hebamme in Nieder-Liebersbach anzustellen. Doch angesichts der damit verbundenen Aufwendungen und Umstände (2jährige Ausbildung, die 2400 Mark kostete und ein Aufnahmestopp) nahm man schnell Abstand.

Günter Körner (3.12.2014)