Nachtwächter in Nieder-Liebersbach

Nachtwächter in Nieder-Liebersbach 1829 – 1901

Am 11. Januar 1829 nachts um 11 Uhr hatten sich die beiden in Birkenau stationierten Gendarmen Fischer und Kunkel nach Nieder-Liebersbach begeben. Beide stellten fest, was sie wohl schon vorher in Erfahrung gebracht hatten. Auf den Nieder-Liebersbacher Straßen patrouillierte kein Nachtwächter mit einem sogenannten Gassenspieß und einem Nachtwächterhorn ausgerüstet, was nach den damaligen Vorstellungen eine eklatante Verletzung der Sicherheitsbedürfnisse der Einwohnerschaft darstellte. Bereits am 13. Januar berichtete Gendarm Fischer dem „hochlöblichen Regierungsamt in Lindenfels“ von diesem Missstand.

Unverzüglich forderte der Landrat Steppes den Nieder-Liebersbacher Bürgermeister Johann Adam Kadel zu einer Stellungnahme auf. Dieser hatte seine liebe Mühe die sich zu rechtfertigen:

„Ich habe Großherzoglichen. Hochlöblichen Regierungsamt gehorsamst zu berichten, dass die Nachtwacht durch die Ortsbürger nach der Reihe, jede Nacht durch zwei Mann getan worden ist. Bis in den verflossenen Herbst, wie das Obst zeitig war, da hab ich eingesehen, dass durch die Nachtwacht von den Örtsbürgern keine Sicherheit in dem Ort war. Man hatte bezweifelt, es möchte durch die Nachtwacht selbst manches entwendet worden sein, weil so viele bedürftige Ortsbürger in dem Ort sind und in dieser Nacht, wo sie die Nachtwacht haben grad am sichersten waren, manches z. B. Obst, Futter, Holz und dergleichen zu entwenden.

Weil in dem Ort Nieder-Liebersbach zwei Grenzaufseher liegen und dieselben des nachts oft bald früh, bald spät durch das Ort hin und her passieren, so hat man es verbieten lassen, dass  sich des nachts nach der Polizei niemand auf der Gasse oder sonst wo  sehen lassen (soll), ohne ein notwendiges Geschäft zu verrichten.

Und hat den Grenzaufsehern den Auftrag gegeben, wen sie außer der Polizei antreffen, ohne weiteres zu arrestieren und in das Bürgermeisterbüro zu führen. Die Grenzaufseher haben es auch verwilligt, wenn sie jemand außer der Polizei in den Ort antreffen, ohne weiteres zu arrestieren. Man kann allerdings sagen, dass in dieser Zeit die Sicherheit mehr in dem Ort war, als wie vorhin, wie die Nachtwacht durch die Ortsbürger getan worden ist.

Weil nun die Grenzaufseher nicht grad als Nachtwächter betrachtet werden können und ihrem Dienst nachgehen müssen, so hat man auf das Jahr 1829 zwei Nachtwächter gedingt (= angestellt), wo der eine vor Mitternacht und der andere nach Mitternacht auf der Gasse sein muss und hat ihnen des Jahrs 20 fl (= Gulden) vor die Nachtwacht zu tun aus der Gemeindekasse versprochen, wenn es von Gr.(ossherzoglichen) hochlöblichen Regierungsamt genehmigt wird. Untertänigst gehorsamster Bürgermeister Kadel

Nieder-Liebersbach, den 27. Januar 1829„.

Eine Reaktion des Landrates in Lindenfels ließ nicht lange auf sich warten:

„An den Bürgermeister Kadel zu Nieder-Liebersbach

Sie haben sehr gefehlt und Strafe verdient, dass sie die Nachtwache ohne Anzeige bei der Bezirkspolizeibehörde haben abgehen lassen. Da das Ort groß, die Zahl der Einwohner nicht gering und in dem Voranschlag (= Haushaltplan) für 1829 wegen Aufbringung der 20 fl für Nachtwächter nicht vorgesehen sind, so muss die Nachtwache durch die Ortseinwohner, wie früher versehen werden und wird jede Nachlässigkeit streng bestraft werden

Lindenfels, den 31. Januar 1829, Steppes“.

Aus der schnellen und bestimmten Handlungsweise des Landrates ist zu ersehen, dass auf den Nachtwächterdienst größter Wert gelegt wurde und ein Verstoß gegen die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung keineswegs als Kavaliersdelikt betrachtet wurde. 1833 wird Adam Zink, der jährlich 23 Gulden erhielt, als Nachtwächter erwähnt.

Trotz aller dieser Aspekte wurde der Nachtwächterdienst als eine missliebige Belastung empfunden. Entweder versahen die Einwohner, wie dies offenbar in Nieder-Liebersbach war, den Wachdienst „der Reihe nach“ und nahmen in Kauf, dass die eingeteilten Wachen selbst lange Finger machten, oder aber man stellte aber zwei zuverlässige Männer an, die natürlich für ihre Bemühungen entlohnt wurden. Die Finanzkraft der Gemeinde Nieder-Liebersbach war auch nach anderen Dokumenten immer desolat, so dass man sich nach Möglichkeit diese Kosten einzusparen suchte.

So ist zu erfahren, dass im Januar 1849 der Gemeinderat die „besoldeten Nachtwächter“ (Adam Zink und Michael Heckmann) entlassen hatte und wiederum die Ortsbürger wechselweise diesen Dienst versehen sollten. Gerade nach den revolutionären Ereignisse in unserer Gegend erschien dies dem Landrat bedenklich, der argumentierte: „ ….ein Reihumgehen der ständigen Nachtwache kann aber voraus nicht genehmigt werden, da man die Ortsbürger zu Frondiensten, als welche das Reihumhalten der ständigen Nachtwache anzusehen ist, zwangsweise nicht angehalten werden können ……“. Die Gemeinde wurde angewiesen, unverzüglich wieder Nachtwächter anzustellen. Gegen einen freiwilligen Dienst der Einwohner zur Unterstützung der Nachtwächter bestanden keine Bedenken.

Im Jahr 1877 wird wieder von Missständen berichtet: „Es hat nunmehr in der kleinen Gemeinde Nieder-Liebersbach im Verlauf von zwei Jahren fünfmal sehr bedeutend gebrannt. Es scheint deshalb, falls nicht vorsätzliche Brandstiftungen stattfinden, dass die Bewohner von Nieder-Liebesbach bei dem Gebrauch von Feuer und Licht nicht mit der gehörigen Vorsicht verfahren.“ In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass sich die Feuerspritze in einem jämmerlichen Zustand befand. Verantwortlich sei für diese Brandschäden das Fehlen eines Nachtwächters, der möglicherweise bei seinen Rundgängen hätte Alarm geben können. Im Übrigen wäre der Nieder-Liebersbacher Polizeidiener „nach den gemachten Wahrnehmungen ein 70 – 80jähriger Mann“.

Konsequenterweise ordnete der Landrat in Heppenheim die Einrichtung einer Nachtwache, bestehend aus zwei Mann und zusätzlich einer Sicherheitswache (sämtliche volljährigen männlichen Einwohner), die jede Nacht mit zwei Mann zur Unterstützung der Nachtwache Streife gehen sollten, an. Sollten diese als dinglich angesehenen Maßnahmen nicht durchgeführt werden, so drohten bei zukünftigen Brandschäden Abschläge von der Versicherungssumme und deutlich höhere Beiträge zur Brandversicherung.

Ohne Zögern wurde die verlangte Sicherheitswache eingerichtet. Als Nachtwächter wurden Simon Klein und Leonhard Schmitt IV verpflichtet, die abwechselnd vor Mitternacht und danach ihren Dienst versahen und dafür jährlich je 57,50 Mark erhielten. Vor Beginn ihrer Tätigkeit wurden beide beim Landgericht (= Amtsgericht) auf treue und gewissenhafte Pflichterfüllung vereidigt. Die Gemeinde Nieder-Liebersbach schaffte 1877 zwei neue Nachtwächterhörner, gefertigt von dem Birkenauer Spengler Fries, an.

Auf die Dauer wurde die Sicherheitswache doch als eine unnötige Belastung empfunden, weshalb Bürgermeister Adam Emig am 18. Februar 1878 den Landrat schrieb: „In Anbetracht, dass wir zwei junge rüstige Männer als Nachtwache angestellt und außerdem einen jungen, tüchtigen Mann als Polizeidiener angenommen haben, und hierdurch auch die Polizei besser als früher gehandhabt wird, bitten wir Großherzogliches Kreisamt vom Fortbestand der Sicherheitswache absehen zu wollen“. Dies wurde vorerst abgelehnt, da weder die zwei Nachtwächter, noch der Polizeidiener „noch nicht erprobt“ wären. Zwei Monate später wurde der Abschaffung der Sicherheitswache entsprochen.

Am 14. Dezember 1879 beschloss der Nieder-Liebersbacher Gemeinderat: „Nachdem der eine von den hiesigen Nachtwächter beantragt, man wolle ihn von seinem Dienste entbinden, erklärte der heute versammelte Gemeinderat folgendes: In Anbetracht, dass die hiesige Gemeinde zu einer der ärmsten zählt, bitten wir Großherzogliches Kreisamt, unsere Gemeinde von der Anstellung und Besoldung von Nachtwächtern ganz zu entbinden.“

Dies wurde abgelehnt, da Nieder-Liebersbach damals 80 Häuser und 642 Einwohner hatte und eine Nachtwache als „unbedingt geboten erschien“.

Im November 1880 stimmte der Landrat zu, dass zukünftig nur noch ein Nachtwächter für die Sicherheit während der Nacht sorgen sollte. Ende dieses Jahres wurde der 48jährige Philipp Falter als Nachtwächter und Polizeidiener verpflichtet. Damit wurden beide Tätigkeiten auf eine Person vereinigt, was mit einer Kosteneinsparung verbunden war.

Die Gemeinderechnung des Jahres 1882 zeigt, dass sich innerhalb kurzer Zeit eine Veränderung ergeben hatte. Als Nachtwächter und Schweinehirt wird für eine jährliche Besoldung von 240 Mark Leonhard Schmitt IV genannt.

Der Gemeinderat wollte gegen den Willen des Bürgermeisters Johannes Emig den Nachtwächterdienst ganz abschaffen. Diesem Ersuchen war jedoch kein Erfolg beschieden.

Am 6 Juni 1884 waren es wieder zwei Fußgendarmen aus Birkenau namens Dittmeier und Eisengrein, die eine Anzeige erstatteten: `Leonhard Schmitt IV, Nachtwächter von Nieder-Liebersbach wurde von den Unterzeichneten am 6. Juni des nachts um 11 1/2 Uhr zu Nieder-Liebersbach betroffen, dass er die Stunde 11 Uhr nicht anzeigte und überhaupt nicht auf der Straße war. Derselbe wurde von uns um 11 1/2 Uhr aus dem Bett in seiner Wohnung aufgeweckt, was wir Gr. Kreisamte zu weiteren gefälligen Verfügung hiermit gehorsamst anzeigen.A Am 9 Juni wurde Leonhard Schmitt IV in Heppenheim verhört. Zu seiner Entschuldigung brachte Nachtwächter Schmitt vor, dies sei das erste Mal in sieben Jahren gewesen, dass er seinen Dienst verschlafen habe. Er bat um Entschuldigung mit der Versicherung, dass ein solches Fehlverhalten nie wieder vorkommen würde. Mit einer ernstlichen Verwarnung, dass ein weiteres Schläfchen zu Unzeiten seine Entlassung bedeuten würde, machte sich Leonhard Schmitt auf den Heimweg. Schmitt versah bis Jahresanfang 1891 seinen Dienst.

Nachfolger sollte Leonhard Maurer werden.  Dieser wird wie folgt charakterisiert:

„…der vorgeschlagene Leonhard Maurer, geboren am 31. Januar 1854 und von hier, ist ein solider und nüchterner Mann, welcher auch in Schreiben hinreichend bewandert ist, … die Gesundheitsverhältnisse desselben sind gut, Vermögen besitzt derselbe nicht viel. Der Vorgeschlagenen hat beim Militär gedient und eignet sich als Nachtwächter unserer Ansicht ganz gut. Bestraft ist derselbe einmal mit 5 Mark wegen Ruhestörung (!).“

Im Dezember 1891 verlangte Leonhard Maurer eine Gehaltserhöhung von 165 Mark auf 175 Mark mit der Drohung sonst seinen Dienst quittieren zu wollen. Dies sah die Gemeinde wiederum als eine willkommene Gelegenheit an, das Amt des Nachtwächters ganz abzuschaffen, was jedoch wiederum vom Landrat abgelehnt wurde.

Wohl aus Sicherheitsbedenken heraus kaufte die Gemeinde für 5,50 Mark 1899 für den Nachtwächter bei dem Weinheimer Adam Jochum einen Revolver.

Im Jahre 1900 wurde in Nieder-Liebersbach Straßenlaternen (Petroleum) angebracht, was als eine deutliche Verbesserung der Sicherheit angesehen wurde. Die Gemeinde Nieder-Liebersbach bat im August 1900 wollte im Gegenzug endlich das Amt des Nachtwächters abschaffen. Für eine gewisse Übergangszeit sollte Maurer statt 175 Mark jährlich 90 Pfennige für jede Nachtwache erhalten.

Man wollte dafür den neu anzustellenden Straßenbeleuchtungswärter Wilhelm Gölz, von dem an anderer Stelle die Rede sein wird, zusätzlich das Amt des Nachtwächters verrichten lassen, „soweit dies möglich ist mit zu versehen“  Den mit Wilhelm Gölz abgeschlossenen Vertrag genehmigte der Landrat eben wegen dieses Zusatzes zunächst nicht. Die Gendarmeriestation Birkenau wurde um Stellung gebeten: „ … nach Ansichten der Station (halten wir es) nicht für angebracht, den Nachtwächterdienst in der Gemeinde Nieder-Liebersbach aufzugeben, da daselbst die Sicherheitszustände nicht der Art sind, dass man einen Nachtwächter entbehren könnte. Es haben daselbst schon öfters zur Nachtzeit, sogar in der Mitternacht Ausschreitungen und Ruhestörungen von Seiten junger Burschen aus Nieder-Liebersbach stattgefunden, wobei der frühere Nachtwächter einschreiten musste und hierbei von den Burschen belästigt und beleidigt worden ist, was deren Bestrafung zur Folge hatte. Bei Aufgabe des Nachtwächterdienstes würden gerade die jungen Burschen ihre Rohheiten in erhöhtem Maße fortsetzen.“

Zur Jahresmitte 1901 bestätigte der Birkenauer Fußgendarm und Stationsführer Wilhelm, dass sich in Nieder-Liebersbach keine Mißstände in Folge des Wegfalls des Nachtwächters ergeben hätten. Die Nieder-Liebersbacher Gemeinderechnung erwähnt letztmals für die Zeit vom 1.4. – 31.8.1901, dass Leonhard Maurer pro Nacht 90 Pfennige, zusammen 137,70 Mark für seine Dienste erhalten hatte Damit war das wohl über Jahrhunderte ausgeübte Amt des Nachtwächters, von dem wir wegen fehlender Unterlagen aus früheren Zeiten keine weitere Kenntnis haben, endgültig abgeschafft.

Günter Körner (4.12.2014)